Theater Narrenschiff

14/02/20

Die Entstehung von SISTER SUFFRAGETTE - Ein Interview mit Judith Binias

André Decker hat mit Regisseurin Judith Binias über ihr selbstverfasstes Bühnenstück SISTER SUFFRAGETTE, und über den Entstehungsprozess gesprochen.

Wie kamst du auf die Suffragetten?

Als ich dann vor zwei Jahren in dem Museum of London war und in die, zugegeben kleine, Ausstellung über die Suffragetten sah, verschlug es mir förmlich den Atem. Wie konnte es sein, dass vor rund 100 Jahren eine solche Bewegung durch Europa und schließlich über die Welt rollte und ich so wenig davon wusste? Hatte ich damals im Geschichtsunterricht etwas über den Kampf für das Frauenwahlrecht gehört? Vielleicht im Fach Politik? Irgendwo? Ich kramte tief in meiner Erinnerung, aber fand nichts. Vielleicht kleinere Kommentare wie „Und später durften Frauen wählen.“ oder „…sollte noch etwas dauern, bis das Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde.“ Aber wie es dazu kam, wusste ich nicht. Ich hatte nicht präsent, dass, wo auch immer eine Gruppe Menschen noch nicht die gleichen Rechte hat wie eine andere, ein Krieg entsteht. Und das nicht von denen, die unterdrückt und missachtet werden. Sondern von denen, die ihre Macht bedroht sehen. Wortlos stand ich vor den Zeugen der Zeit, die einen Einblick in den blutigen und zermürbenden Kampf der Frauen in London für das Recht zur Wahl preisgaben. Ausschnitte von Zeitungen berichteten, wie sich Frauen versammelt hatten, um gemeinsam zu demonstrieren. Spätere Artikel erzählten dann davon, wie die ersten Scheiben eingeschlagen wurden. Tatsächlich gab es keinen Bericht über die Brutalität, mit der die Polizei und Politik schließlich gegen die Demonstrantinnen vorgegangen sind.

„Ich habe gesehen, wie sie sie abführten. Sie versuchte, etwas zu rufen, aber ein Polizist griff mit seinem Arm um ihren Hals. Bevor sie bewusstlos wurde, klopfte sie so schwach gegen seinen Arm und sein Gesicht, dass er erschrak. Für einen kleinen Moment sah ich die Panik in seinem Gesicht: er wusste, dass sie zu weit gegangen waren.“

   - Elisabeth Garret Anderson -

Die einzigen Zeitzeugen stammten von Aussagen, feministischen Flugschriften. Die Fotos zeigten Frauen, die zu Boden gestoßen waren. Wie schwer die Misshandlungen waren, wurde ausgeklammert.

Als ich meinen Blick über die Schärpen, Zeitungsartikel, Fotos und Medallien wandern ließ, dachte ich an die Demonstrationen der Frauen heute. An #metoo - ein so simpler Hashtag, der zeigte, wie häufig sexuelle Übergriffe und Missbrauch gegenüber Frauen sind. An die kleinen aber präsenten Unterschiede im Recht, so es nach Buch oder Gesellschaft, zwischen Menschen, die als männlich und solchen, die als weiblich gelesen werden.

 

Was hat dich motiviert, die Geschichte über den Kampf der Suffragetten für das Wahlrecht alle Frauen heute auf die Bühne zu bringen?

Zum einen ist und war da einfach dieser Wunsch zu zeigen, wie lange und mit welchen Opfern Frauen für ihre Rechte gekämpft haben. Und es heute noch tun. Die Tatsache, dass eben nicht alle Menschen gleich sind, ist auch heute noch eine Tatsache, die mich schlichtweg wütend macht. Frauenrechte sind Menschenrechte. So auch die Rechte von allen anderen, die nicht weiß, männlich und cis sind. Zum anderen finde ich es wichtig den Menschen, die für eine offenere und gerechtere Welt gekämpft haben, auch eine Stimme zu geben.

 

Sister Suffragette beruht ja fast ausschließlich auf historischen Begebenheiten. Auch die Protagonistinnen des Stückes hat es alle gegeben. Wie hast du es geschafft, diese ganze lange Geschichte, die sich über mehrere Jahre abgespielt hat, für ein Bühnenstück zu adaptieren?

Zunächst einmal musste ich leider sehr viel streichen und kürzen! Die gesamte Geschichte und der Kontext sind enorm faszinierend und auch so wichtig. Dennoch konnte ich nicht alle Handlungsstränge mit in das Stück nehmen. Deswegen habe ich letztlich auch Ereignisse, die teilweise mehrere Jahre auseinander lagen, zusammengebracht. Auf diese Weise konnte ich möglichst viel der Geschichte aufnehmen und gleichzeitig einen dramaturgischen Spannungsbogen halten.

Im Mittelpunkt des Stückes  stehen die Pankhurst-Frauen, die in England die WSPU gegründet haben. Aber Suffragetten gab es u.a. auch in Amerika und auch in Deutschland. Wie kommt es, dass uns dieser Teil unserer Geschichte hier zulande  nicht so oft über den Weg läuft?

Das wüsste ich auch gerne! Ich nehme an, dass es für nicht so wichtig erachtet wurde - ich möchte mal provokant sagen: von den männlichen Geschichtsschreibern. Der Fall von Emily Davidson zeigt sehr deutlich, wie stark historische Aufzeichnungen männlich geprägt wurden. Emily Davidson warf sich beim Derby 1913 vor das Pferd des Königs, um auf den Protest der Suffragetten aufmerksam zu machen. Wissend, dass dort Filmaufnahmen gemacht wurden, sah sie so die Gelegenheit, die Sichtbarkeit zu erhöhen und nahm dafür den eigenen Tod in Kauf. Ms Davidson wurde in der Presse als „krank“ bezeichnet, nicht zurechnungsfähig. Die Filmaufnahmen allerdings wurden erst in den späten 70er Jahren analysiert und schließlich veröffentlicht. Ms Davidson wurde bewusst diffamiert und die Realität unter Beschluss gehalten.

Was hat dich bei deiner Recherche überrascht und berührt?

Mich haben die persönlichen Lebensgeschichten sehr berührt. Wir kennen meistens nur die „Ikonen“ und dort auch nur, was für das öffentliche Bild am wirksamsten war. Aber die kleinen Details waren es, die mich teilweise auch sehr überrascht haben. Die Recherche war teilweise allerdings etwas undurchsichtig, da verschiedene Quellen verschiedene Geschichten erzählt haben und ich mich immer fragen musste „Warum erzählt wer etwas wie?“.

 

Was können wir heute noch von den Suffragetten lernen? Oder ist der Kampf der Suffragetten, mit dem erlangen des Wahlrechts für Frauen bereits längst gewonnen?

Ich glaube, dass der Kampf zwar gewonnen ist, aber extrem fragil. Man schaue nach Amerika und wie schnell dort Gesetze geändert werden, die das Recht der Frauen auf einen Schwangerschaftsabbruch beschrieben haben. Letztlich können wir von ihnen lernen, dass es wichtig ist, aufzustehen und zusammen zu halten. Wie Emmeline Pankhurst sagte: „Ihr müsst Widerstand leisten, jede auf ihrem Gebiet.“. Auch heute brauchen wir die Menschen, die aktiv sind, demonstrieren. Andere, die den Wandel im Alltag leben und im unmittelbaren Umkreis auf Missstände hinweisen. Und die, die noch mehr riskieren.

Wie habt ihr als Team von Sister Suffragette den Probenprozes erfahren?

Als oft sehr emotional. Themen wie sexuelle Übergriffe, Machtlosigkeit, Ungerechtigkeit, Enteignung, kurz: Misogynie sind einfach schmerzhaft. Teilweise mussten wir die Proben abbrechen. Es ist ein schmaler Grat, sich von den Ereignissen zu distanzieren, um sie zu spielen und gleichzeitig auch zu empfinden.

 

Wie kann man Kunst und Geschichte vereinen? Theater ist ja auch ein Medium, das gewisse Rahmenbedingungen mit sich bringt.

Eine Bühne ist ein großartiger Ort, um Geschichte wieder aufleben zu lassen. Dadurch wird sie erfahrbar. Wichtig war für mich, dass die Dramatik nicht die historischen Ereignisse zu sehr beeinflusst. Wie bereits gesagt, musste ich hier und da kleine dramaturgische Entscheidungen treffen, die die Geschichte ein wenig verändert haben. Dennoch sollte dieser Vorgang nicht verzerren, was wirklich geschehen ist. Durch manche Einschränkungen wird man kreativ - beispielsweise wenn es darum geht, dass man gewisse Zeitebenen hat oder auch begrenzten Raum. Andere Rahmenbedingungen erschweren den Prozess und man muss auch mal auf etwas ausweichen, das einem nicht so gut gefällt. Am Ende, und das ist der Theaterzauber, kommen dann doch alle Puzzleteile zusammen.